Armutsbekämpfung mit Hilfe von Machine Intelligence
Machine Intelligence (MI) kann im Kampf gegen Armut eine entscheidende Rolle spielen. Mehrere Projekte und Initiativen haben bereits gezeigt, wie MI-Technologien dazu beitragen können, die Auswirkungen und die Ausbreitung von Armut zu verringern.
Nach Angaben der Vereinten Nationen [1] leben weltweit rund 736 Millionen Menschen in extremer Armut (mit weniger als 1,90 USD pro Tag), die meisten davon in Südasien und in Afrika südlich der Sahara. Neben einem extrem schlechten Einkommen und einem niedrigen Lebensstandard leiden diese Menschen häufig unter Hunger und Unterernährung und haben nur eingeschränkten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Sie leiden unter Diskriminierung und werden häufig vom gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Andererseits ist relative Armut - definiert als ein Einkommen, das erheblich unter dem Durchschnitt liegt - auch in Industrieländern vorhanden, wo sie sich durch Stigmatisierung, Unsicherheit und soziale Ausgrenzung manifestiert. Obwohl in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte bei der Armutsbekämpfung erzielt wurden, ist Armut auch heute noch ein wichtiges und herausforderndes Thema. Kein Wunder also, dass die Armutsbekämpfung nach wie vor die Nummer eins auf der Liste der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung ist [2].
UN Infographik über Armut [1].
MI-Technologien können gemeinnützige Organisationen (NPOs / NGOs), WissenschaftlerInnen und Regierungsbehörden bei der Bekämpfung von Armut unterstützen, indem sie bestehende Initiativen optimieren und völlig neue Wege zur Bewältigung dieser komplexen Herausforderung schaffen. Im Folgenden beschreiben wir Beispiele dafür, wie MI derzeit im Kampf gegen die Armut eingesetzt wird. Wir hoffen, dass sie die LeserInnen dazu inspirieren, das Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das Potenzial von MI-Technologien für das Gemeinwohl zu erkennen und Ideen für alternative Ansätze zur Armutsbekämpfung hervorzubringen.
Armut erkennen
Wenn wir die Armut verringern wollen, müssen wir zunächst die geografischen Gebiete identifizieren, in denen sie vorkommt und erkennen welche dieser Gebiete am dringendsten Hilfe benötigen. Zu diesem Zweck können Volkszählungsdaten und Haushaltserhebungen verwendet werden. Für viele Entwicklungsländer sind solche Informationen jedoch häufig nicht verfügbar. Darüber hinaus manipulieren viele Regierungen ihre Daten für politische Zwecke, so dass die verfügbaren Daten möglicherweise nicht wirklich zuverlässig sind. Das Füllen dieser Lücke durch das Sammeln von Daten durch Freiwillige ist sehr langsam, oft schwierig und kann sehr kostspielig sein.
Um diese Herausforderung angemessen anzugehen, muss man unkonventionell denken. Und genau das haben die ForscherInnen vom Stanfords Predicting Poverty Project getan [3]: Sie haben maschinelles Lernen (ML) mit hochauflösenden Satellitenbildern kombiniert, um verlässliche Schätzungen von Armut und Wohlstand in mehreren afrikanischen Ländern (Malawi, Nigeria, Ruanda, Tansania und Uganda) zu erzeugen. Dabei haben sie einen einfachen, aber brillanten Trick angewendet: Zunächst werden Bilder der Erde bei Nacht hinsichtlich ihrer Helligkeit bewertet. Hellere Regionen sind tendenziell stärker entwickelt, da die Helligkeit auf eine höhere Verfügbarkeit von Elektrizität hinweist, so dass dieses Kriterium als Anhaltspunkt für das wirtschaftliche Entwicklungsniveau einer Region verwendet werden kann. Diese Informationen werden dann verwendet, um hochauflösende Tagesbilder zu kennzeichnen. Das heißt, um diese Bilder in Cluster von "armen" und "reichen" Regionen zu unterteilen. Im nächsten Schritt lernt ein ML-Algorithmus, diese Tagesbilder ohne menschliche Hilfe in ihre entsprechenden Entwicklungsstufen einzuordnen. Das ML-System lernt, bestimmte Bildmerkmale zu interpretieren, z. B. das Vorhandensein von Straßen, städtischen Gebieten, Wasserquellen oder Ackerland als Indikatoren für wirtschaftlichen Wohlstand zu werten. Im letzten Schritt wird das vom ML-Algorithmus erstellte MI-Modell verwendet, um das Armuts- und Wohlstandsniveau in neuen Regionen (Regionen, die für den Lernprozesses der Maschine nicht verwendet wurden) abzuschätzen. Auf diese Weise können die Stanford-ForscherInnen die Verteilung der Armut sehr genau vorhersagen, sogar genauer als mit einem herkömmlichen Ansatz! Der MI-Ansatz ist sehr billig und skalierbar und kann zur Bewertung der von Armut betroffenen Gebiete auf der ganzen Welt verwendet werden. Mit diesen Informationen können gemeinnützige Organisationen und Regierungen effizienter und effektiver im Kampf gegen die Armut vorgehen.
ForscherInnen des Qatar Computing Research Institute (QCRI) der Hamad Bin Khalifa University haben gezeigt, dass der oben genannte Ansatz durch die Einbeziehung statistischer Daten aus sozialen Medien verbessert werden kann [4]. Das Facebook-Tool „Audience Insights“ beispielsweise ermöglicht den Zugriff auf Statistiken über Benutzergruppen, einschließlich Informationen wie Alters- und Geschlechtsverteilung, aber auch Attribute wie Bildung, Beruf, die Länder in denen die BenutzerInnen gelebt haben und welche Art von Geräten die BenutzerInnen verwendet haben, um auf Facebook zuzugreifen [5]. Diese statistischen Analysen können sogar auf Stadtbezirksebene durchgeführt werden und als Anhaltspunkt für Wohlstand/Armut dienen. Wenn es beispielsweise in einer Region viele BenutzerInnen gibt, die über ein iPhone (ein recht teueres Gerät) auf Facebook zugreifen, ist diese Region sehr wahrscheinlich ziemlich wohlhabend. Die Kombination dieser Daten mit Satellitenbildern kann sehr detaillierte Statistiken über die wirtschaftliche Situation eines bestimmten Landes, einer Stadt oder sogar eines Bezirks liefern. In Zusammenarbeit mit UNICEF und unter Verwendung dieses Ansatzes hat QCRI bereits Armutskarten für die Philippinen und Indien erstellt.
Sobald die von Armut betroffenen Regionen identifiziert wurden, besteht der nächste Schritt darin, die wirksamsten Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Armut zu definieren. Die landwirtschaftliche Entwicklung und ein besserer Zugang zu Bildung werden häufig als die zwei vielversprechendsten Aktionsbereiche genannt. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie MI die landwirtschaftliche Entwicklung fördern kann, dass wir diesem Thema einen eigenen Artikel widmen [6]. In diesem Artikel werden wir nur Bildung als Mittel zu diesem Zweck betrachten.
Verbesserung des Zugangs zu Bildung
Eine UNESCO-Studie aus dem Jahr 2017 ergab, dass, wenn alle Erwachsenen auf der Welt eine Sekundarschulbildung absolvieren würden, ca. 420 Millionen der Armut entkommen würden [7]. Das sind mehr als 50% der extrem armen Bevölkerung weltweit! Auch in Industrieländern korreliert Wohlstand stark mit Bildung. Ein besserer Zugang zu Bildungsressourcen kann Kindern aus armen Familien helfen aus der „Armutsfalle“ auszubrechen. Daher ist die Bereitstellung von Bildung für Bedürftige eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Bekämpfung der Armut auf der ganzen Welt und eine Vielzahl von MI-Technologien kann NPOs/NGOs unterstützen, die sich diesem Ziel widmen.
Standard-Lehrmittel können durch MI weiterentwickelt werden und neue Wege zur Verbesserung des Zugangs zu Bildung eröffnen. Ein Beispiel ist die PowerPoint-Untertitelungsfunktion, mit der eine Lehrerin ihre Wörter während des Unterrichts transkribieren und als Untertitel anzeigen lassen kann [8]. Der Text kann in derselben Sprache erscheinen oder in eine andere übersetzt werden. Diese Funktion kann beispielsweise genutzt werden, um deutschsprachigen LehrerInnen die Möglichkeit zu geben, Kindern in Äthiopien Online-Nachhilfe zu erteilen. Ein solcher Ansatz kann verwendet werden, um das Problem des Lehrermangels in Entwicklungsländern anzugehen.
Fortgeschrittene Analysetechniken können Bildungseinrichtungen dabei helfen tiefere Einblicke in die Bedürfnisse ihrer SchülerInnen, ihre Leistungen und Problembereiche, sowie die Wirksamkeit der Programme der Einrichtungen zu gewinnen. Ein Beispiel für eine solche Einrichtung ist Eneza Education, ein Unternehmen, das Schülern in Kenia, Ghana und der Elfenbeinküste Lernmaterial für Grund- und Sekundarschulen zur Verfügung stellt, auf das von jedem Gerät zugegriffen werden kann [9]. Eneza arbeitete mit dem in den USA ansässigen Social Startup Delta Analytics zusammen, um seine Auswirkungen zu quantifizieren und besser zu verstehen, indem die Daten von über 350.000 Nutzern der mobilen Plattform von Eneza analysiert wurden [10]. Ähnliche Analysen können für jede Bildungseinrichtung durchgeführt werden, die Daten über ihre StudentInnen hat. Dies kann zu einem besseren Verständnis der Studierenden, ihres Verhaltens und der Wirksamkeit von Programmen führen, so dass die Einrichtung bessere Entscheidungen darüber treffen kann, wie sie auf Studierende zugehen und diese unterrichten soll.
Eine organische Erweiterung der oben genannten Idee sind intelligente Online-Tutorensysteme wie das von Carnegie Learning [11]. Dieses System hilft LehrerInnen und TutorInnen einen Unterrichtsstil zu finden, der den Bedürfnissen jeder Schülerin entspricht. Unterstützt von Big Data und fortschrittlichen Analysetools bietet die Plattform LehrerInnen in Echtzeit Feedback zu den Leistungen, Stärken und Schwächen der SchülerInnen, damit sie ihre Unterrichtsweise an die Bedürfnisse der einzelnen SchülerInnen anpassen können.
Armut in Industrieländern
Extreme Armut in Entwicklungsländern ist ein sehr wichtiges und dringendes Thema. Aber auch die relative Armut in den Industrieländern ist nicht zu unterschätzen. So waren 2019 15,9% der deutschen Bevölkerung von Armut bedroht [12] und in den USA waren mehr als 550.000 Menschen obdachlos [13].
Um dieses Problem anzugehen, wurden verschiedene MI-Ansätze entwickelt. Zum Beispiel entwickelten portugiesische ForscherInnen eine App, die Risikofaktoren für Überschuldung vorhersagt [14]. Diese App kann von Behörden und gemeinnützigen Organisationen verwendet werden, um Haushalte zu identifizieren, die bald unter die Armutsgrenze rutschen könnten und dringend Hilfe benötigen.
Die Stadt London, Ontario in Kanada, steht derzeit vor einer großen Herausforderung im Hinblick auf die zunehmende Obdachlosigkeit. Als eine Maßnahme dagegen hat die Stadt eine künstliche Intelligenz (KI) Anwendung namens Chronic Homelessness Artificial Intelligence (CHAI) entwickelt, die vorhersagt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Nutzerin einer Obdachlosenunterkunft chronisch obdachlos wird [15]. Da diese Anwendung auf sehr sensiblen Daten basiert, haben die EntwicklerInnen dem Datenschutz, der Anonymisierung und der Interpretierbarkeit der KI-Vorhersagen große Aufmerksamkeit gewidmet. Außerdem ist die Teilnahme am Programm freiwillig.
Als abschließendes Beispiel möchten wir die Zusammenarbeit der britischen Außenstelle von DataKind mit einer Lebensmittelbank in Huddersfield erwähnen. Sie entwickelten ein ML-System, mit dessen Hilfe die SozialarbeiterInnen Kunden identifizieren können, bei denen das Risiko besteht chronisch von den Dienstleistungen der Lebensmittelbank abhängig zu werden [16]. Diese Kunden erhalten eine ganzheitliche Beratung von den SozialarbeiterInnen, die ihnen auch bei der Lösung der zugrunde liegenden Probleme helfen. Das ML-System unterstützt die MitarbeiterInnen bei der Priorisierung von Fällen, so dass knappe Humanressourcen am effektivsten eingesetzt werden können, um den am stärksten gefährdeten Personen zuerst zu helfen.
Typischer Prozess in Huddersfields Lebensmittelbank, um Menschen, die wahrscheinlich zusätzliche Unterstützung benötigen, eine frühzeitige Hilfe anzubieten. Oben, vor und unten, nach Einführung von ML-Lösung [16].
Fazit
Machine Intelligence Technologien können im Kampf gegen extreme und relative Armut eine entscheidende Rolle spielen. Wir haben hier nur einige Beispiele für intelligente Maschinen erwähnt, die NPOs, Unternehmen und Behörden bei der Bekämpfung der Armut unterstützen. In der Tat gibt es eine ganze Reihe solcher Initiativen und noch mehr potenzielle Anwendungen, die noch darauf warten, entwickelt zu werden. Denken Sie also kreativ und nutzen Sie die Kraft moderner Technologien in Ihrer Organisation [17].
Literaturverzeichnis
[1] https://www.un.org/en/sections/issues-depth/poverty/.
[2] https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/.
[3] http://sustain.stanford.edu/predicting-poverty/.
[5] https://www.facebook.com/business/insights/tools/audience-insights.
[6] https://www.mi4people.org/hunger.
[9] https://enezaeducation.com/.
[10] http://www.deltanalytics.org/past-grant-recipients.html.
[11] https://www.carnegielearning.com/.
[14] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7571461/.
[15] https://news.trust.org/item/20201015080726-yer4o.
[16] https://www.datakind.org/projects/identifying-food-bank-dependency-early.
[17] Wir bei MI4People sind bestrebt mit Ihnen zusammenzuarbeiten, um Ihnen zu helfen, das volle Potenzial von MI zu verstehen. Zusammen identifizieren wir Forschungsprojekte, die zu wirksamen MI-basierten Lösungen führen, welche dazu beitragen, das Gemeinwohl zu stärken und die gemeinnützigen Ziele Ihrer Organisation besser zu erreichen.